Spielplatz Erinnerungsort?

Analyse10.02.2023Tabea Widmann
Spielplatz Erinnerungsort
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Organisiert von der Thomas-Dehler-Stiftung in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und dem Jüdischen Museum Augsburg Schwaben fand am 10. Februar ein Workshop am Augsburger Städtischen Jakob-Fugger-Gymnasium statt: Die Kulturwissenschaftlerin Tabea Widmann arbeitete mit den Schülerinnen und Schülern zu Erinnerungsorten, dem Raum des Erinnerns und digitalen Spielen. Sie baute dabei auf Ergebnisse ihrer Dissertation auf („The Game is the Memory“. Prosthetic Witnessing in Digitalen Spielen um den Holocaust. i.E.). In diesem Beitrag fasst sie ihre Forschungsergebnisse zusammen.

Mit der Frage „Spielplatz Erinnerungsort?“ rücken zwei Begriffe in unmittelbare Nähe zueinander, die auf den ersten Blick nur schwer zusammen gedacht werden können. Weniges scheint weiter voneinander entfernt zu liegen als dies: auf Unterhaltung und persönliches Ausprobieren ausgerichtete digitale Spielwelten einerseits und andererseits diejenigen Orte der Erinnerung, die als zentrale Vermittlungsinstanzen des kollektiven Gedächtnisses um den Holocaust und die menschenverachtenden Verbrechen des Nationalsozialismus bestehen; Orte der kollektiven Erinnerung, eines Bewältigungsversuchs über eine traumatische Vergangenheit, die nach wie vor unsere Identitäten prägt – auf familiärer und lokaler, gerade auch nationaler und europäischer Ebene.

Und doch versteht sich dieser Beitrag als Versuch, der Frage nach dem „Spielplatz Erinnerungsort?“ fruchtbare Antwortmöglichkeiten entgegenzustellen. Er sucht aufzuzeigen, dass digitale Spielwelten gerade mit ihrer eindeutigen Zweck- und Zielgebundenheit, ihren Regeln und der unbedingten Involvierung ihrer Spielenden erinnerungskulturell wirken können. Daher setzt sich dieser Text zum Ziel, nach einigen einführenden Gedanken, was Erinnern an den Holocaust gerade im Kontext der bestehenden Erinnerungsorte einerseits und das Medium digitales Spiel andererseits bedeuten kann, einige wichtige Anknüpfungspunkte aufzuzeigen, worin digitale Spielwelten bzw. digitales Spielen als fruchtbare Medienwelten des kulturellen Erinnerns auftreten und genutzt werden können.

Erinnerungsorte heute

„Niemals wieder!“ Dies ist der Auftrag, der den Erinnerungskulturen um die Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere den Holocaust voransteht: Wir erinnern, um der Opfer zu gedenken, um die kollektiven Traumata aufzuarbeiten. Zugleich erinnern wir auch, um für radikalisierende Strukturen zu sensibilisieren, um zu verhindern, dass erneut menschenverachtende Regime ermöglicht werden. Erinnerungskulturen sind damit durch zwei Blickrichtungen geprägt: den Blick in die Vergangenheit und den Blick in die Zukunft. Ein bewahrender Blick auf unsere Geschichte und zugleich ein womöglich warnender, zumindest ein wachsamer Blick auf potenzielle Entwicklungen in unserem Zusammenleben.

Als vielschichtige Orte spiegeln Erinnerungsorte eben jene zwei Blickrichtungen der Erinnerungskulturen wider: Es handelt sich einerseits um Orte mit historischer Bedeutung. Dementsprechend sind sie durch die Spuren der Vergangenheit gekennzeichnet, denen auf unterschiedlichen Ebenen nachgespürt werden kann. Andererseits sind sie durch jene Strukturen geprägt, welche die nachgeborenen Generationen als Teil ihrer Erinnerungspraxis an ihnen errichteten:

So finden sich an ihnen zumeist Angebote der Bildung, der historischen Wissensvermittlung, die z.B. in Form von Ausstellungen am Erinnerungsort verankert sind. Zugleich finden sich an ihnen ebenso Plätze, die explizit und ausschließlich dem Gedenken an die Opfer gewidmet wurden bzw. zu diesem Zweck errichtet sind. Sprich, an den Erinnerungsorten spiegeln sich die verschiedenen Anliegen wider, unter welchen wir seit Jahrzehnten zu erinnern versuchen. Er gestaltet sich als Amalgam unterschiedlicher Erinnerungsaufträge.

Erinnerungsorte bilden somit Räume, die eben in ihrer Räumlichkeit jene Prozesse nachvollziehbar machen, welche die Erinnerungskulturen der letzten Jahrzehnte diskursiv prägten; sie zeugen von den Diskursen, worin man sich letztlich überhaupt auf „kulturelles Erinnern an den Holocaust“ verständigen konnte.

Dabei verhandeln auch diese Orte bereits über ihre Verbindung zu den Medientechniken unseres digitalen Zeitalters und setzen sich damit auseinander, welche Rolle diese für die Erinnerungskulturen spielen können: So bieten viele Gedenkstätten, unter ihnen z.B. die Gedenkstätte Auschwitz, virtuelle Rundgänge an, die versuchen, Raumerfahrung in die digitale Sphäre des Bildschirms zu übertragen. Zugleich nutzen sie dabei selbst bereits bekannte Motive und Bilder, die wir als Konsument*innen mittlerweile mit dem Holocaust verbinden: Einen gelben Stern, ein Tor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ oder auch die Gleise, die ins Lager Auschwitz-Birkenau führen. An den heutigen (digitalen) Erinnerungsorten begegnen sich die Gedächtnisse der Orte (als Spuren der Vergangenheit) und die Gedächtnisse an die Orte (durch die genutzten Medienbilder-Welten).

Unter „Panorama Auschwitz“ können die User*innen z.B. basierend auf der Technik von Google Maps die Gedenkstätte virtuell betreten und sich an einzelnen Stationen in 360°-Fotographien scheinbar am Ort umsehen. Zugleich eröffnen auf dem Interface eingeblendete Informationsboxen Zugriff auf historisches Wissen und bisweilen sogar weiterführende Literatur. Damit rückt im Digitalen die Raumerfahrung der Erinnerungsräume bereits stärker in die partizipative Verantwortung der User*innen: Sie entscheiden autark über die Bewegungen, Blickrichtungen, das Aufrufen des Informationsangebots etc.

Screenshot aus der Anwendung „Panorama Auschwitz“. Zugriff via https://panorama.auschwitz.org/tour2,en.html
Screenshot aus der Anwendung „Panorama Auschwitz“. Zugriff via https://panorama.auschwitz.org/tour2,en.html

Zwei Aspekte lassen sich aus dieser Entwicklung ableiten: Erstens, bei Erinnerungsorten handelt es sich um zentrale Institutionen unseres kulturellen Erinnerns, die durch ihren Verweis auf die Vergangenheit wie durch unsere gegenwärtigen Erinnerungspraktiken an ihnen geprägt sind. Und zweitens, es bestehen bereits seitens der Erinnerungsakteur*innen Versuche und Impulse, die Bedeutung dieser Räume in die digitale Sphäre zu übertragen und dabei enger an die User*innen als Erinnerungsakteur*innen zu binden. Und eben für diesen Prozess, so möchte ich hier argumentieren, bilden digitale Spiele machtvolle Medien, die sinnstiftendes und emotional berührendes Erzählen in virtuellen Räumen zunehmend perfektionieren.

Digitale Spiele – das Erzählmedium des 21. Jahrhunderts

Wenige Medien sind so vielfältig und entwickeln sich zugleich so divers weiter wie das Medium „digitales Spiel“. Es bildet das zentrale Erzählmedium des 21. Jahrhunderts und macht den Spieler*innen mittlerweile die verschiedensten Geschichten spielerisch zugänglich. Längst muss sich ein Spielziel nicht mehr darauf beschränken, als erste*r über eine Ziellinie zu fahren oder das gegnerische Team zu besiegen. Sondern gerade Spieltitel von kleineren Independent-Studios beschäftigen sich mit Themen, die berühren und bewegen, erschrecken, zum Nachdenken anregen, politisieren – kurzum: Digitale Spiele schrecken immer weniger davor zurück, sich auch mit kontroversen, diffizilen oder sensiblen Themen auseinanderzusetzen. Davon zeugen z.B. der Titel Sea of Solitude (Electronic Art, 2019), der sich mit Jugenddepression auseinandersetzt oder eben auch Through the Darkest of Times (Paintbucket, 2020) – ein Spiel, das den Widerstand einer Gruppe zur Zeit des NS-Regimes in Berlin zu seinem Spielsetting erklärt.

Eine der wichtigsten Komponenten, die digitales Spielen reizvoll macht bzw. das Spielen an sich überhaupt erst konstituiert, ist dabei neben dem eigenen Avatar insbesondere die Spielwelt, die sich vor den Spieler*innen erstreckt: Spielwelten wollen erforscht, bestaunt, bereist, erkundet werden – und kreieren dabei die unterschiedlichsten Räume: von abstrakten Labyrinthen, dystopischen Phantasiestädten bis hin zu fotorealistischen Nachbildungen tatsächlicher – will sagen realweltlicher – Orte. Als Kulturprodukte stehen digitale Spiele dabei stets in Verbindung zu den umgebenden Kulturen. D.h. indem wir ihre Spielwelten bereisen, setzen wir uns letztlich mit unserer eigenen Welt auseinander, wie sie sich jenseits der diversen Bildschirme erstreckt, mit denen wir uns in unserem Alltag umgeben. Drei Aspekte, welche digitales Spielgeschehen prägen, seien an dieser Stelle besonders hervorgehoben: Die Regelhaftigkeit der Spielwelten, die unbedingte Zielsetzung des spielerischen Umgangs mit ihnen und nicht zuletzt die wirkungsvollen Narrative, also „große Erzählungen“, welche die Spielenden selbst hervorbringen – eben weil sie sich in einer Spielwelt bewegen und mit ihr, ihren Bewohner*innen und Objekten interagieren.

Bereits einem einfachen Spielprinzip, wie es z.B. der Mario Kart-Reihe zugrunde liegt, sind alle der genannten Aspekte inhärent: So funktionieren die Autorennen in dieser Spielserie stets streng regelgebunden. Ich kann die Fahrbahn nicht verlassen und heimliche Abkürzungen nutzen, um zu gewinnen. Noch kann ich während der Fahrt mein Fahrzeug oder meinen Avatar wechseln. Um Mario Kart erfolgreich zu spielen, muss ich mich als Spieler*in demnach an die Regeln halten, die ihrerseits keine Ausnahmen zulassen. Zugleich verspricht mir das Spiel ein Erfolgsmoment, eine Gewinnmöglichkeit, die alle Regelhürden wettmacht: Halte Dich an die Regeln und Du hast die Chance, als erste*r über die Ziellinie zu fahren und zu gewinnen!, so das Versprechen, dem die Autos auf dem Corso im Bildschirm nachsausen. Damit suggeriert es zugleich, dass ich das Ziel erreichen kann, wenn ich mich an die Regeln halten.

Doch abstrahiert vermittelt das Mario Kart an die Spielenden eine weitere, wesentlich grundsätzlichere Erfahrung: Perfektioniere Deine Fähigkeiten, setze Dich gegen andere durch und Du wirst Erfolg haben – ein starkes Narrativ, das letztlich tief in unserer kapitalistischen Erfolgsgesellschaft verankert ist. Der Mikrokosmos der Mario Kart-Fahrbahn macht dieses Narrativ konkret greifbar, beispielhaft erfahrbar und damit umso wirkungsvoller, 1) weil die Spielenden selbst an seiner Erzeugung beteiligt sind, 2) weil es an ein konkretes Ziel gebunden ist sowie 3) weil die spezifischen Regeln eindeutig vermitteln, wie das Ziel erreicht werden kann. Digitale Spielwelten eröffnen somit durch ihre Regelbindung, ihre eindeutige Ausrichtung auf ein Spielziel sowie die Intensität der selbsterspielten Geschichten wirkungsvolle Erfahrungsräume. Und es sind daher eben jene drei Aspekte, die digitale Spiele zu ebenso wirkungsvollen erinnerungskulturellen „Spielplätzen“ avancieren lassen. Denn ihre große Chance liegt darin, die Regelbindung, die Zielsetzung und nicht zuletzt die großen Erzählungen unserer Erinnerungsprozesse um den Holocaust aufzudecken und vergleichsweise unmittelbar an die Spielenden zu vermitteln.

Spielplatz Erinnerungsort – zwischen Regeln, Zielsetzung und Erzählungen des Erinnerns

Wie eingangs beschrieben sind die heutigen Erinnerungskulturen zwischen Vergangenheit und Zukunft verankert: Wir gedenken der Vergangenheit, um in der Zukunft ein bestimmtes Ziel – nämlich „Never again!“ – zu erreichen. Doch wie ebenso im Hinblick auf die verschiedenen Nuancen des Erinnerns zwischen Traumabewältigung, Gedenken der Opfer oder historischer Bildung bereits aufgezeigt wurde, sind die Ziele des kulturellen Erinnerns vieldimensional und damit an verschiedene Regeln gebunden. Als erinnerungskulturelle „Spielplätze“ scheinen digitale Spiele gerade dafür geeignet, in ihren interaktiven und so zugänglichen Spielwelten auf solche Regeln und Ziele aufmerksam zu machen. Das bereits genannte Spiel Through the Darkest of Times lässt sich dabei als Vorreiter für eine Form der Spieleentwicklung begreifen, wie sie sich – hoffentlich! – in Zukunft noch stärker finden wird.

So steht für Through the Darkest of Times keine soldatische Auseinandersetzung mit der Armee des Dritten Reichs im Vordergrund. Noch können die Spielenden heroisch (potenzielle) Opfer des Regimes retten oder gar vor der Verfolgung bewahren. Vielmehr rückt das Spiel mit dem Setting einer Widerstandsgruppe Möglichkeiten des Protests in den Vordergrund: seien dies Aktionen der Aufklärung der Bevölkerung oder Dokumentationen von Verbrechen. Als Mitglied einer bunten Gruppe von Menschen, die den Mut gefunden haben, gegen das Regime zu kämpfen, müssen sich die Spieler*innen mit persönlichem Risiko und den möglichen psychischen Folgen des Widerstands ebenso auseinandersetzen wie mit der Langwierigkeit von Widerstandshandlungen: Die Missionsziele zu erreichen, ist ein mitunter anstrengender Prozess, der zermürbt, vorausschauendes Planen abverlangt und regelmäßig durch unvorhersehbare Ereignisse durchbrochen wird.

Heroismus und Gewalt stehen hier Narrative von Kollaboration und prospektiver Planung gegenüber. Zugleich vermittelt das Spiel, wie das Zusammenspiel einzelner kleiner Handlungen am Ende zu mehr Erfolg führen kann als die spektakuläre Tat eines einzelnen Helden, wie es viele digitale Spiele in klassischer Heldenreise-Manier noch erzeugen: Im rundenbasierten Strategiespiel planen wir als Protagonist*innen Demonstrationen, drucken wir Flugblätter oder versuchen wir, verbotene Bücher ins Ausland zu schmuggeln. Demgegenüber bedeutet es auch Widerstand, in eine Galerie zu gehen und sich sogenannte „entartete Kunst“ anzusehen – jenen Kunstwerken Anerkennung zu zollen, die vom NS-Regime ebenso vernichtet wurden.

Die Spielwelt von Through the Darkest of Times ist somit ein Aktionsraum, in dem wir uns als Spieler*innen bewegen, der mit unseren Handlungen gefüllt wird und dabei einerseits bereits vorcodierte erinnerungskulturelle Narrative und Motive hervorbringt: So begegnen wir u.a. einer Überlebenden aus Auschwitz, die von den grauenhaften Zuständen im Lager berichtet. Andererseits hält uns die Spielwelt dazu an, indem Bewahren und Dokumentieren im weitesten Sinne zum Spielziel erklärt werden, Prozesse des Erinnerungstransfers spielerisch nachzuvollziehen: Im Spielsetting sind wir als Widerstandsgruppe letztlich daran beteiligt, eben solche Dokumente zu beschaffen, die wir als Besucher*innen einer Gedenkstätte dort möglicherweise als historische Quelle vorfinden. Und zuletzt führen uns die Spielregeln in Balance von Ressourcenmanagement und psychischer Kompensation von Angst und Verzweiflung vor Augen, wie fragil sich solche historischen Prozesse gestalteten, die heutiges Erinnern überhaupt erst ermöglichten.

Beispielhaft direkt liegt das erinnerungskulturelle Potenzial von Through the Darkest of Times eben darin: Als „Spielplatz“ erinnerungskulturellen Handelns zu fungieren, worüber die Spielenden sich mit Prozessen des transgenerationellen Transfers von Wissen, Erinnerungen, Dokumenten befassen. Vor allem erzeugt das Spiel die Erfahrung, wie unbedingt solche Prozesse auf investierte Akteur*innen angewiesen sind, wie sehr es aktiver und engagierter Menschen bedarf, sodass Erinnerungsprozesse wirkungsvoll und bedeutsam bleiben.

Die erinnerten Ereignisse um den Holocaust und die Verbrechen des Nationalsozialismus rücken in immer größere zeitliche Distanz. Zugleich rücken sie in den digitalen Medien in immer weitere Kontexte, erleben Verzerrungen und Fragmentierung. Wie wichtig sind dann solche „Spielplätze“, die uns mit unseren Regeln und Zielen konfrontieren und zugleich Möglichkeiten des Ausprobierens offerieren! Gerade also die Erfahrung von eindeutigen Zielen, eindeutigen Regeln und insbesondere der Wirkung des persönlichen Handelns, die digitale Spiele eröffnen, vermag es, uns daran zu erinnern, dass die Erfüllung von „Never again!“ auf unser Engagement angewiesen ist. Es bedarf, dass wir uns als Erinnerungsakteur*innen stets die Frage stellen: Welches Ziel verfolge ich? Nach welchen Regeln möchte ich und sollten andere handeln? Und für welche Geschichte übernehme ich durch mein eigenes Handeln Verantwortung?