Ukraine verstehen: Geschichte, Politik und Freiheitskampf

Zwei Lesungen mit Steffen Dobbert in München und Nürnberg
Nachricht29.03.2023Dr. Constantin Groth
Ukraine verstehen
Klett-Cotta

Beide Veranstaltungen beginnen mit den Worten von Oleksandra Radtschenko: Dienstag, 5. April 1932: Sie nehmen alles bis zum letzten Brotkörnchen, wohl wissend, was sie dadurch bewirken. Die Kinder werden vom Hunger gefoltert und von Würmern, weil sie rohe Rüben essen, die nicht bis zur nächsten Ernte reichen werden. Was wird dann geschehen?

Am 28. und 29. März war Steffen Dobbert nach München (s. Anm. 1) und Nürnberg (s. Anm. 2) gekommen, um sein jüngstes Buch „Ukraine verstehen: Geschichte, Politik und Freiheitskampf“ vorzustellen und darüber zu diskutieren.

Gleich die erste Lesepassage beschäftigte sich mit einem der schlimmsten Kapitel der Geschichte des Landes, das vielleicht mehr als jede andere Nation Europas erdulden musste: dem Holodomor, dem von Stalin bewusst herbeigeführten Massenmord durch Hunger. Von 1931 bis 1934 forderte dieser in der Sowjetunion mindestens fünf Millionen Todesopfer – darunter über 3,9 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer. Das Tagebuch von Oleksandra Radtschenko, das in Dobberts Buch ausführlich zitiert wird, gibt einen schonungslosen Einblick in das Leid der Menschen dieser Zeit. Gelesen wurden die Passagen von Kateryna Matey (in München) und Olga Magera (in Nürnberg): Beide Ukrainerinnen saßen mit Steffen Dobbert auf dem Podium, gaben Einblicke in ihre Sicht auf ihr Land, ihre Identität und auf die gegenwärtige Situation und trugen so zum Verstehen der Ukraine, dem Titel des Buches und der Veranstaltungen entsprechend, ganz maßgeblich bei.

Beide stellten heraus, wie sehr sie vor dem Februar 2022 in Deutschland mit Unwissen und Unverständnis hinsichtlich des Landes ihrer Geburt konfrontiert wurden: „Die Ukraine“, so musste sich Kateryna Matey fragen lassen, „– gehört das nicht zu Russland?“ Olga Magera, die am Willstätter-Gymnasium in Nürnberg die ukrainischen Schülerinnen und Schüler in Deutsch und Englisch unterrichtet, betonte: „Die ganze Welt hat die Ukraine nicht wahrgenommen. Warum hat es erst einen Krieg gebraucht, um das zu ändern?“

Doch nur, weil täglich über den Krieg berichtet wird, bedeutet das nicht, dass nun ein breites Wissen über die Ukraine und Verständnis für ihren Freiheitskampf vorhanden wären. Hier setzt Dobberts Buch an. Der Autor darf dabei als ausgewiesener Kenner der Ukraine und ihrer Geschichte gelten: Als Stipendiat des Internationalen Journalistenprogramms lebte er in Odesa und Kyjiw, mehr als 50 Recherchereisen führten den Journalisten, der seit 2007 für DIE ZEIT und ZEIT ONLINE tätig ist, in verschiedene Teile des Landes. Es sei, so Dobbert, die Fußball-Europameisterschaft 2012 gewesen, insbesondere die Herzlichkeit und Lebensfreude der Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihn im Besonderen für dieses Land begeistert hätten.

Steffen Dobbert liest aus "Ukraine verstehen" - Nürnberg, 28.03.
Steffen Dobbert liest aus "Ukraine verstehen" - Nürnberg, 28.03.Thomas-Dehler-Stiftung

Nur ein Jahr nach der Europameisterschaft begann das, was in Deutschland als Euromaidan, in der Ukraine als Revolution der Würde bezeichnet wird. Auslöser war die Weigerung des russlandfreundlichen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, das seit Jahren vorbereitete Assoziierungs-Abkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen. Für sie, so Olga Magera, ein Schock. Die Regierung will die Proteste mit Gewalt niederschlagen lassen, im Februar 2014 lässt sie Scharfschützen auf die eigene Bevölkerung schießen, im Ganzen verlieren 127 Menschen während des Volksaufstandes in Kyjiw ihr Leben. Doch aus den Protesten war längst ein Kampf für die Freiheit geworden, aus dem die Ukrainerinnen und Ukrainer letzten Endes siegreich hervorgehen. Steffen Dobbert war selbst vor Ort und beschreibt die Ereignisse als Augenzeuge. Und er berichtet von Andrij Saienko, den er auf dem Maidan kennenlernte und der dort sein Leben verlor. Das Gespräch mit dessen Mutter, aus dem er in München und Nürnberg las, gehört zu den stärksten Passagen seines Buches.

Was für sie der Euromaidan bedeute, fragte Birgit Boeser, Leiterin der Europäischen Akademie Bayern, die als Moderatorin durch beide Veranstaltungen führte, Kateryna Matey. „Er bedeutet alles für mich!“, so die knappe Antwort der seit vielen Jahren in Deutschland lebenden Ukrainerin, die sich seit diesen Ereignissen für eine freie und unabhängige Ukraine einsetzt.

Birgit Boeser im Gespräch mit Kateryna Matey - München 29.03.
Birgit Boeser im Gespräch mit Kateryna Matey - München 29.03.Thomas-Dehler-Stiftung

Kurz nach dem Erfolg der Revolution der Würde besetzen russische Truppen die Krym und entfesseln einen Krieg in der Ostukraine. „Wenn Sie nur eines aus dieser Veranstaltung mitnehmen“, so Steffen Dobbert, „dann, dass dieser Krieg nicht 2022, sondern bereits 2014 begonnen hat.“

Steffen Dobbert

Wenn Sie nur eines aus dieser Veranstaltung mitnehmen, dann, dass dieser Krieg nicht 2022, sondern bereits 2014 begonnen hat.

Steffen Dobbert

Die letzte Lesepassage beschäftigte sich mit Putins Lügen über die Ukraine und der beständigen Desinformation, die Teil des hybriden Krieges Russlands ist und die auch im Westen immer wieder verfängt. Dobberts Buch wirkt dem entgegen. Der Autor hat damit etwas geleistet, was gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Zwei Abende für die Ukraine, zwei Abende für die Freiheit. Zum ihrem Gelingen trug nicht zuletzt auch das musikalische Rahmenprogramm bei: In München, wo die Veranstaltung an der Ukrainischen Freien Universität stattfand, spielten Natalija Raithel (Violine) und Olexander Lysiuk (Violoncello) Stücke ukrainischer Komponisten, in Nürnberg sang Yevheniia Sobolevska bekannte ukrainische Lieder. Ihr „Plyve Kacha“ zu den von Steffen Dobbert aufgenommenen Bildern der Revolution der Würde wird vielen Zuschauerinnen und Zuschauern noch lange in Erinnerung bleiben.

 

(1) in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, der Europäischen Akademie Bayern e.V. und der Ukrainischen Freien Universität

(2) in Kooperation mit der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, der Europäischen Akademie Bayern e.V. und EUROPE DIRECT Nürnberg