„Und sie?“

Der Auftritt von Pussy Riot in den ausverkauften Münchner Kammerspielen – eine Kooperationsveranstaltung des Theaters mit der Thomas Dehler- und Friedrich Naumann-Stiftung
Meinung18.05.2022Claus Lochbihler
Pussy Riot
Enid Valu

Selbst Putin schaut dem Putin-Exorzismus zu. Zumindest symbolisch. Jemand hat sein Gesicht auf einen Stock geklebt und links von der Bühne in den Münchner Kammerspielen platziert. Der Symbol-Putin trägt gestreifte Sträflingskleidung und die dazu – auf Englisch - passenden Forderungen. Ganz oben: „Putin vor den Internationalen Gerichtshof!“

Auf der Bühne spielt sich vor seinen starren Augen eine wilde, grelle, laute Performance ab. Eine Mischung aus Protestkunst und Elektro-Punk, aus Bild- und Video-Show, aus gesungenem, getanztem und gebrülltem Vortrag, das Ganze unterlegt mit harten Beats (Diana Burkot) zwischen Rave und Reggae-Dub, und röhrenden Saxofon-Improvisationen (Anton Ponomarew).

Zentralfigur des wilden Reigens: Maria „Masha“ Aljochina, Pussy-Riot-Original-Mitglied seit 2011, die für ihre Beteiligung am Punk-Gebet in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale im Februar 2012 zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt worden war. Sie betritt die Bühne so, wie wenn sich noch einmal an den Wärtern vorbei in Putins Hofkirche hineinschmuggeln möchte: als fromme Unschuld im weißen Kleid, mit offenem Haar und einem Kreuz um den Hals. Dazu skandiert sie in einer Mischung aus Sprechgesang und herausgebrülltem Gebet: „Gottesmutter, Jungfrau, jage Putin davon, jage Putin davon, jage Putin davon.“

Die Texte, Bilder, Videos und Comics auf der Videoleinwand hinter der Bühne erzählen in englischer und deutscher Übersetzung, was „Pussy Riot“ vorne auf der Bühne nachstellen: die Vor- und Nachgeschichte des „Punk Gebets“ von 2012, basierend auf Aljochinas Buch „Riot Days“, das ihre Mitstreiterin und Mitsängerin, die ehemalige Polizistin Olga Borisova mit ihr herausgegeben hat.

Die Show misst aus, was es heißt, in einem System der Unfreiheit auf Freiheit – künstlerischer und politischer – zu beharren. Für ihre Freiheit und ihr Recht auf Protest(-kunst) nahmen Maria Aljochina und ihre Mitstreiterinnen die Unfreiheit in Kauf. Wer sich mit der Unfreiheit und dem Putinismus, ja selbst dem Lagersystem, arrangiert, ist nicht wirklich frei, so ihre Message. Als Aljochina im Dezember 2013 von der Lagerleitung erfährt, dass sie – wegen einer Amnestie – jetzt frei sei, fragt sie mit entwaffnender Logik zurück: „Und sie?“

Am Ende ihres Auftritts singen „Pussy Riot“ noch ihren Song gegen den Ukraine-Krieg und seine Darstellung in den russischen Medien. Zu Bildern russischer Kriegsgefangener, die wie Kinder aussehen, erklingt der Satz: „Mama, ich bin in Gefangenschaft. Mama, hier sind wirklich keine Nazis“. Und dann ein Ohren- und markerschütternder Schrei: „Butscha!“. Mit „Slava Ukraini“ verabschieden sich Pussy Riot von der Bühne.

Freiheit müsse jeden Tag neu verteidigt werden, sagt Olga Borisova im Anschluss an den Auftritt bei der Podiumsdiskussion, unter anderem mit Beteiligung von Mdb Thomas Hacker, dem Präsidenten der Thomas Dehler-Stiftung. Sie fordert schärfere, klarere Sanktionen gegen das kriegsführende Russland unter Putin, letztlich einen kompletten Boykott von Energie-Importen. Thomas Hacker entgegnet, dass Sanktionen ihr Ziel verfehlten, wenn sie dem Sanktionierenden mehr schaden würden als dem Sanktionierten. Er stimmt zu, dass die deutsche Politik in der Vergangenheit gegenüber Russland Fehler gemacht habe – „viele Fehler!“. Und erinnert daran, dass Deutschland auf dem guten und sich beschleunigenden Weg sei, sich von Energieimporten aus Russland völlig unabhängig zu machen.

Aljochina, die sich für diese Tour aus ihrem Hausarrest in Russland nach Litauen und den Westen undercover hinausstehlen musste, gibt währenddessen Interviews. Sie will nach der Tour wieder nach Russland zurückkehren, kündigt sie an diesem Abend an. Gut möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass sie diese Freiheit ein weiteres Mal mit Unfreiheit bezahlen muss.

Pussy Riot
Enid Valu