Thomas Dehler

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THOMAS DEHLER – SEIN LEBEN FÜR DIE FREIHEIT

Als Thomas Dehler 1945 auf die politische Bühne trat, brachte er 48 Jahre Erfahrung ein, die er mit vielen Landsleuten teilte: Die Katastrophe zweier Weltkriege und das Scheitern von Wilhelminismus und Weimarer Republik. Viele wollten vor diesem Hintergrund von Politik nichts mehr wissen. Er knüpfte an sein früheres Engagement an und übernahm Verantwortung. Er war überzeugt: „Der Weg zum Nationalsozialismus war eine Folge des politischen Versagens der Verantwortlichen.“ Der neuerliche Versuch, der Demokratie auf der Grundlage freiheitlicher Werte zur Geltung zu verhelfen, musste gelingen. Dehler packte mit an. 1897 in Lichtenfels geboren, ging Dehler in Bamberg auf das Gymnasium und studierte danach in München, Freiburg und Würzburg Recht. Nach seiner juristischen Promotion 1920 ließ er sich zunächst in München nieder. Dort wirkte er bei den Jungdemokraten, der Liga für den Völkerbund und engagierte sich im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold für die junge Republik. Dabei kam er in ersten Kontakt zum Naumann-Schüler Theodor Heuss, der ihn nachhaltig beeindruckte. In der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) versammelten sich nach 1918 Verfassungspatrioten und Vernunftrepublikaner, von denen die junge Republik nicht nur in Bayern zu wenige hatte. 

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Nach seinen gescheiterten Kandidaturen für den Bayerischen Landtag und den Reichstag 1924 zog Dehler 1926 als Anwalt nach Bamberg. Im Jahr zuvor hat er seine jüdische Frau Irma geheiratet. Als Sozius und bald Nachfolger in der Kanzlei eines angesehenen jüdischen Anwalts verfügte er über intensive Kontakte in das Bamberger Bildungsbürgertum. 1927 wurde er Mitglied der Freimaurerloge. Seit 1926 war er auch Ortsvorsitzender der Liberalen, bis diese sich 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auflösen mussten. Diese Lebensumstände brachten ihn nicht nur in Widerspruch zum Regime und ins Visier des NS-Staats, sondern auch in Kontakt mit einer Widerstandsgruppe, die aber keinen besonderen Beitrag zur Überwindung der Diktatur leisten konnte. Für seinen beruflichen Einsatz wurde er vom NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ als „Judenanwalt“ geschmäht. Mit Glück überlebten er und seine Frau, mit der er nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ in einer „privilegierten Mischehe“ lebte, die Schrecken des Krieges. Dehler war zeitweise zur Zwangsarbeit verpflichtet und interniert worden. Nach der Befreiung durch amerikanische Truppen wurde er als aufrecht gebliebener Demokrat zum Landrat, Generalstaatsanwalt und Oberlandesgerichtspräsidenten in seiner Heimatstadt Bamberg. Er gehörte zu den Gründervätern der am 15. Mai 1946 für Bayern zugelassenen FDP und wurde deren erster Landesvorsitzender.

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Als Mitglied des ersten frei gewählten Nachkriegslandtags übte er heftige Kritik an der neuen Bayerischen Verfassung, die die Eigenstaatlichkeit des Freistaats für sein Empfinden zu sehr betonte. Im Parlamentarischen Rat gehörte er als einer der fünf stimmberechtigten Freien Demokraten zu den Eltern des Grundgesetzes. Auch wenn Dehler sich mit seinen Vorstellungen zum Beispiel für eine starke Präsidialregierung nicht durchsetzen konnte, warb er im Münchner Maximilianeum leidenschaftlich, letztlich aber erfolglos für die Annahme des Grundgesetzes durch das konservativ dominierte Parlament. (Das Grundgesetz erlangte in Bayern nur Geltung, weil die anderen Länder der künftigen Bundesrepublik ihm zustimmten.) Mit der Wahl des ersten Deutschen Bundestags wurde Thomas Dehler 1949 auch Parlamentarier in Bonn. Seine Partei machte ihn zum Justizminister im ersten Kabinett unter Bundeskanzler Konrad Adenauer. Als hochangesehener Jurist hatte Thomas Dehler hier Pionierarbeit zu leisten, auch wenn er an die Arbeit und Struktur des Reichsministeriums für Justiz der Weimarer Zeit anknüpfte. Die Rechtsordnung musste vom Kriegsrecht und NS-Ungeist gereinigt und an der Würde des Menschen als oberstem Verfassungsgebot ausgerichtet werden. So wurde er zum Vater des modernen Rechtsstaats, dem er aus den Trümmern des vom Nationalsozialismus geschändeten Rechts seine verlorene Würde wiedergab. Dazu gehört in den frühen 50er Jahren auch sein letztlich erfolgreiches Eintreten gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe.

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Die Auswahl des Personals an der Spitze der Justiz wurde angesichts der Verluste, die Krieg, Verfolgung und Emigration für die Rechtspflege in Deutschland bedeuteten, eine Herausforderung und Bewährungsprobe. Nicht alle Juristen des Ministeriums teilten seine juristische Brillanz  und sein – unbestritten – tadelloses Verhalten unter den Zwängen des NS-Regimes. Dehler unterschied bei der Einschätzung der fachlichen und charakterlichen Eignung seiner “Rechtsexperten“ zwischen fanatischen Mitgliedern der NSDAP und solchen, die mit Blick auf die Sicherung ihres Lebensunterhalts „der Partei“ beitraten. Er wollte die Justiz nicht pauschal für die Anwendung politisch gesetzten Rechts verantwortlich machen. Ihm lag an der Beurteilung des Einzelfalls, nicht an der kollektiven Verurteilung. Rechtssicherheit sollte auch für potentielle Täter gelten. Das prägt auch seine heftig diskutierte Haltung in der späteren Verjährungsdebatte 1965. Dem Einsatz Thomas Dehlers verdankt das Verfassungsgericht – wie auch der Bundesgerichtshof – den Standort, Adenauer wollte beide in Köln. Von ihm haben sie auch ihr Selbstverständnis in der Gewaltenteilung: Karlsruhe soll Hüter, nicht Herr der Verfassung sein. Herr der Verfassung ist der Souverän, das Volk, das die Rechtsschöpfung in die Hände seiner gewählten Vertreter im Bundestag legt. Dehler unterstützte Bundeskanzler Adenauers Bekenntnis zur Westbindung. Die Haltung und Aktivitäten der CDU zur Wiedervereinigung dagegen waren Thomas Dehler zu zurückhaltend. Dehlers deutsche Perspektive reichte über die Bonner Republik hinaus. 

Das führte zu Spannungen mit Adenauer und konservativen Kräften in der jungen FDP, die sich noch nicht zwischen einem eher konservativ-liberalen Kurs und Dehlers dezidiert liberalen Kurs entscheiden wollte. Nach der Bundestagswahl 1953 wurde Dehler deshalb nicht wieder ins Kabinett berufen, führte aber fortan die FDP-Bundestagsfraktion. Die FDP sah Dehler in seiner Zeit als deren Bundesvorsitzender in den Jahren 1954 bis 1957 eher als Protagonisten, der seiner Partei ein klares von Koalitionsrücksichten unabhängiges Profil geben sollte. Dieses Soll erfüllte Dehler insbesondere in seiner Abrechnung mit Adenauer nach allgemeinem Empfinden im Übermaß. Zum Bruch mit Adenauers Deutschlandpolitik kam es bereits 1955 in der Debatte um die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik. Adenauer wollte es „europäisieren“. Dehler und die FDP wollten die Aufnahme und setzen sich durch. Die Saar entschied sich für die Bundesrepublik. Seine rhetorische Leidenschaft verschaffte Dehler Respekt und Kritik. Seine Begeisterung für die pointierte Positionierung, sein Mut zum klaren Profil – auch auf die Gefahr hin, damit erkennbar und angreifbar zu sein – wurde aber nicht von allen Parteifreunden geteilt. Deshalb folgte der konziliantere Reinhold Maier im Parteivorsitz. Dehler trug von 1960 an als Vizepräsident des Deutschen Bundetags dazu bei, das Parlament als Ort der Meinungsbildung und des Interessenausgleichs zu profilieren, in dem die öffentliche Konfrontation zum Konsens geführt wird. 

"ICH BEJAHE EUROPA, ABER NICHT DAS EUROPA DER BÜROKRATEN."

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Dehler bekannte sich zur Idee Europa, nicht als bürokratische Kopfgeburt, sondern als Einheit in Vielfalt zur Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen. In Adenauers Deutschlandpolitik vermisste er die Bereitschaft, auch auf die Sowjetunion zuzugehen. Adenauers kompromissloser Kurs verfestigte nach Dehlers Überzeugung die deutsche Teilung. Er war aber überzeugt, dass die Wiedervereinigung als Kernproblem der deutschen und europäischen Politik nur im Dialog mit Russland zu lösen ist. Dehler war so zweifelsohne ein früher Wegbereiter dessen, was später als  Entspannungspolitik Willy Brandts, Walter Scheels und Hans-Dietrich Genschers den Weg zur Deutschen Einheit bahnen sollte. Er hat die Anzeichen aufziehenden Tauwetters sicher mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, aber auch befördert, ehe ihn ein Herzinfarkt 1967 in Streitberg unvermittelt aus dem Leben riss. Thomas Dehler gehört zu den markanten Parlamentariern der jungen Bundesrepublik. Wenn er für seine liberale Überzeugung und gegen die Bevormundung des Einzelnen stritt, fürchtete er weder Großorganisationen noch Gewerkschaften, weder Kanzler noch Kirche. Sein rhetorisches Temperament erregte Aufsehen und Respekt bei Freunden und Gegnern. Als „fränkischer Feuerkopf“ erfuhr er dafür Kritik und Wertschätzung. Wegbegleiter und Widersacher beeindruckte, was Dehlers Politik auszeichnete: Leidenschaft für die Freiheit.